Wintersonnenwende

 

Die Spinnerin als Hüterin der Zeit

 

Die Wintersonnenwende markiert seit jeher einen Moment des Innehaltens: Die Sonne scheint stillzustehen – und doch wird in dieser Stille bereits die Rückkehr des Lichts geboren.

In den ländlichen Kulturen Mitteleuropas war diese Zeit eng mit dem Spinnen verbunden.Wenn die Tage am kürzesten sind und die Dunkelheit früh hereinbricht, beginnt eine besondere Zeit.

Eine Zeit der Stille.

Eine Zeit, in der früher das Außen ruhte und das Innere hörbar wurde.

Besonders um die Wintersonnenwende galt eine eigene Ordnung.

Die Alten wussten: Nicht jede Zeit gehört der Arbeit.

 

Wenn die Feldarbeit ruhte und die Abende länger wurden, begann die eigentliche Spinnzeit. In den warmen Stuben kamen Frauen allen Alters zusammen, um Flachs zu verspinnen. Doch die Kunkelstube war mehr als ein Arbeitsplatz. Flachs wurde gesponnen, Geschichten wurden erzählt, Sorgen geteilt, Lieder durchzogen die Dunkelheit und altes Wissen wurde weitergegeben. Es war Ordnung schaffen im Winter, Halt geben im Übergang, Gemeinschaft im Dunkel. Die Kunkelstube war ein Ort des Erzählens, Singens und Weitergebens von Wissen. Sie war ein warmes Licht im Dunkel des Jahres.Das Spinnen wurde Teil eines gemeinschaftlichen Winterrhythmus.

In alten Vorstellungen galt das Spinnen nicht nur als Handwerk, sondern als Sinnbild für das Ordnen des Lebens selbst. Der Faden stand für Zeit und Schicksal, das Spinnrad für den Kreislauf des Jahres. Mythische Gestalten wie Frau Holle oder Perchta, die besonders in den dunklen Wochen um die Wintersonnenwende auftreten, wachen in den Sagen über die Spinnerinnen und den rechten Zeitpunkt der Arbeit. Fleiß wurde belohnt, Achtlosigkeit getadelt. Besonders in den Tagen um die Sonnenwende und in den Rauhnächten ruhte die Spindel. Denn diese Zeit gehörte nicht dem Tun, sondern dem Übergang. Sie erinnerten daran, dass alles seine Zeit hat: das Arbeiten und das Ruhen, das Spinnen und das Loslassen. Zwischen den Jahren stand das Spinnrad still. Als Zeichen des Respekts vor dem Neubeginn.

 

So wurde die Wintersonnenwende zu einem stillen Versprechen: Auch wenn es am dunkelsten ist, beginnt etwas Neues. Ganz langsam. Faden für Faden.

In alten Vorstellungen war jeder Faden ein Stück Zeit.

 

Die Fäden des alten Jahres galten als vollendet, das neue Jahr noch ungewebt. Diese Pause machte sichtbar: Arbeit hatte ihren Platz, aber auch das Innehalten. Der Faden, der sich aus der Kunkel löste, verband Vergangenheit und Zukunft. In der Gemeinschaft wurde das Dunkel leichter und das kommende Licht greifbarer.

Wenn nach der Sonnenwende das Licht langsam zurückkehrte, durfte auch das Rad wieder erklingen. Aus dem Dunkel wuchs Neues – so wie aus dem Flachs ein Faden, aus dem Faden ein Tuch, aus der Gemeinschaft, ein Halt.

 

In der Volkskunde erscheint das Spinnen in dieser Zeit als Teil einer größeren, kosmischen Ordnung. Besonders die Rauhnächte,die Tage zwischen Wintersonnenwende und Dreikönig, galten als eine Zeit außerhalb des gewöhnlichen Laufs der Welt. 

Davon zeugt eine weit verbreitete Überlieferung aus dem süddeutschen und alpenländischen Raum, festgehalten bereits im 19. Jahrhundert:

> „Holla wird wiederum als spinnende frau dargestellt, der flachsbau ist ihr angelegen.

fleißigen dirnen schenkt sie spindeln und spinnt ihnen nachts die spule voll; faulen spinnerinnen zündet sie den rocken an oder besudelt ihn …

… wenn sie weihnachten im land einzieht, werden alle spinnrocken reichlich angelegt und für sie stehen gelassen;

fastnachts aber, wenn sie heimkehrt, muß alles abgesponnen sein, die rocken stehen dann vor ihr versteckt …

… trift sie alles an, wie es sich gehört, so spricht sie ihren segen aus, im gegentheil ihren fluch,

die formeln ›so manches haar, so manches gute jahr!‹ ›so manches haar, so manches böse jahr!‹ klingen alterthümlich.“

 

— Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Kapitel über Holda/Holle (Projekt Gutenberg‑Edition) 

 

 

Dies alles verweist auf eine alte Vorstellung:

Nicht jede Zeit ist Arbeitszeit. Das Spinnrad muss wissen, wann es ruht. Wer in den Rauhnächten spinnt, greift symbolisch in den Lauf von Zeit und Schicksal ein.

So wurde die Spinnerin zur Hüterin des Jahresrhythmus.

Ihr Faden verband Licht und Dunkel, Ende und Anfang, Vergangenes und Kommendes. In der Stille der Wintersonnenwende wurde nicht nur Garn hergestellt – es wurde Zukunft vorbereitet.

 

Licht, Gemeinschaft und Bedeutung bis heute

 

Mit der Christianisierung wurden diese Vorstellungen nicht verdrängt, sondern neu gedeutet. Die Darstellung Marias als Spinnerin und die Betonung des Lichts in der Weihnachtszeit greifen ältere Bilder auf und führen sie weiter. Spinnen blieb eine Tätigkeit der Sammlung, der Vorbereitung und des stillen Gestaltens.

 

Heutzutage knüpft die Kunkelstube an diese Tradition an. Sie erinnert daran, dass Handarbeit Zeit braucht, dass Gemeinschaft im Winter wärmt und dass im scheinbaren Stillstand bereits Neues entsteht. So wird das Spinnen wieder zu dem, was es immer war:

eine Verbindung von Handwerk, Jahreslauf und menschlicher Nähe.

 

Auch heute trägt das Spinnen diese Kraft in sich.

Es entschleunigt.

Es verbindet.

Es schenkt dem Augenblick Gewicht.

 

Wer ist Frau Holle?

Herkunft: Germanische Göttin, später im Volksglauben zur Hausfrau degradiert.
Funktion:
Göttin der Fruchtbarkeit, des Wetters, der Wintersonnenwende und des Spinnens.
Belohnt Fleiß und Ordnung, bestraft Faulheit.
Überwacht die Jahreszeitenzyklen und Hauswirtschaft.
Symbolik:
Spindel und Spinnrad als Zeichen ihrer Macht über Schicksal und Ordnung.
Kissen und Fäden als Metaphern für Fruchtbarkeit und Lebensfäden.

Wer ist die Percht?

Herkunft: Vermutlich eine ältere oder regionale Variante derselben Göttin, besonders in den Alpen und Süddeutschland verbreitet.
Funktion:
Ambivalent: sie erscheint als strenge oder wilde Göttin, teilweise furchteinflößend.
Kontrolliert Ordnung, Bestrafung und die moralische Disziplin der Menschen.
Führt die „wilde Jagd“ und schützt die Rauhnächte.
Symbolik:
Wilde Frau, Waldfrau, Gestalt der rauen Winterkräfte.

Göttinnenfunktion in den Rauhnächten

Beide Figuren verkörpern die ambivalente Natur der Zeit und des Jahreszyklus: Schutz und Segen einerseits, Strafe und Warnung andererseits.
Sie sind Personifikationen der kosmischen Ordnung, die Arbeit, Ruhe, Winter und Jahreswende regeln.
In volkstümlichen Überlieferungen treten sie nicht nur als Frauen, sondern als übernatürliche Wesen mit göttlicher Autorität auf.

Frau Holle und Percht sind keine einfachen Hausgeister oder Märchenfiguren, sondern Restbilder alter germanischer Göttinnen, deren Macht über Natur, Jahreszeiten und Schicksal durch Handwerk, Rituale und Volksglauben überliefert wurde. Sie sind der Spiegel zwischen Gut und Böse. Sie verkörpern die ambivalente Natur der Rauhnächte: Schutz und Gefahr, Lohn und Strafe, Leben und Tod.


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